Nach dem Sturz der Assad-Herrschaft in Syrien bemüht sich die internationale Staatengemeinschaft in unterschiedlichen Konstellationen, das geschundene Land wirtschaftlich und politisch zu stabilisieren. Auch die Bundesregierung ist aktiv. Deutsche Firmen haben große Chancen, am Wiederaufbau teilzunehmen. Die Bundesregierung muss koordinieren.
Der Kollaps des alten Systems lief überraschend schnell und glatt. Im Dezember 2024 war der Führer der Rebellengruppe HTS, Ahmad- Al-Shara’a mit seinen Truppen in nur zehn Tagen nahezu ohne Gegenwehr auf Damaskus zumarschiert und hatte die Macht ergriffen. Das war nur möglich auf Grundlage eine einzigartigen geopolitischen Konstellation.
Der Iran fand seinen Einfluss in Syrien erheblich beschnitten, nachdem Israel die aus dem Libanon heraus agierende Hisbollah entscheidend geschwächt hatte. Russland war zunehmend mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt und zeigte keine Neigung mehr, das mit ihm verbündete Regime in Damaskus zu stützen. Die Türkei hatte im Nordosten sowieso bereits große Gebiete Syriens unter seine Kontrolle gebracht, um die verfeindeten Kurden in Schach halten zu können.
Die USA sind – immer noch – mit einigen tausend Soldaten im Land und haben die Kontrolle über die Ölvorkommen. Israel hat die Schwäche des Landes genutzt, um am Golan große Teile syrischen Staatsgebietes zu erobern und zu besetzen. Durch verheerende militärische Schläge auf Stützpunkte und Einheiten der wehrlosen syrischen Streitkräfte hat es das Land bis auf unabsehbare Zeit angriffsunfähig, aber auch verteidigungsunfähig gemacht.
Damit wurde ein empfindliches Gleichgewicht von Interessen erreicht, das zwar weit von einer soliden politischen Stabilität entfernt ist, aber den gegenwärtigen Machthabern in Damaskus zumindest erlaubt, als provisorische Regierung einer Geschäftstätigkeit nachzugehen.
Die Türkei hat einstweilen die Zusammenarbeit bei Reformen der Regierungsführung und der lokalen Verwaltung übernommen und strebt eine Zusammenarbeit mit der Übergangsregierung bei der Grenzsicherheit und der Integration syrischer Fraktionen an, um die regionale Stabilität zu gewährleisten.
Wer in Syrien heutzutage etwas erreichen will, findet in Damaskus tatsächlich Ansprechpartner. Die Herrschenden sind bemüht, auf der Grundlage von vorhandenen Strukturen der alten Apparate und neuen Entscheidungswegen Entscheidungen zu fällen oder einzuleiten, die – im Glücksfall – den Übergang zu einem geregelten Staatswesen und einer koordinierten wirtschaftlichen Tätigkeit ebnen können.
Am 25. Februar fand die erste Sitzung des „Nationalen Dialogs“ statt, im traditionellen Präsidentenpalast in Damaskus, wo noch kurz zuvor Bashar al-Assad das Land mit eiserner Hand regiert hatte. Dieses Gremium steht vor der Aufgabe, dem Land eine neue Verfassung zu geben. Das alte – noch von Bashar Assad und seinen Leuten 2012 erlassene Dokument – war Ende Januar 2025 für ungültig erklärt worden.
So wird das Land einstweilen auf unsicherer rechtlicher Grundlage von einer Übergangsregierung regiert. Ahmad Al-Shara, der starke Mann in Damaskus schätzt, dass der verfassungsgebende Prozess rund drei Jahre andauern könnte. Freie Wahlen stellte die jetzige Regierung in „etwa fünf Jahren“ in Aussicht.
Die anstehenden Herausforderungen sind nicht eben gering.
Die unterschiedlichen Ethnien und Religionsgruppen im Vielvölkerstaat Syrien müssen eingebunden werden und zufriedenstellende Angebote bekommen: Etwa Drusen, Alawiten und Angehörige diverser christlicher Kirchen. Die syrischen Kurden haben nach einigem Zögern eine Vereinbarung mit der Übergangsregierung getroffen. Sie sieht vor, dass die Zentralregierung die Kontrolle über zivile und militärische Einrichtungen im Nordosten bekommt – darunter die Grenzübergänge zum Irak und in die Türkei, die dortigen Flughäfen und Ölfelder. Die Kurden, die an einer Einheit des Landes interessiert sind, bekommen Rechte, die ihnen unter dem alten Regime verwehrt waren – wie etwa die offizielle Nutzung ihrer Sprache.
Einig waren sich die zum Nationalen Dialog zusammengekommenen Vertreter, dass es keine Regierung geben soll, die auf Quoten entsprechend der religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit basiert. Die entsprechende Beispiele im Libanon oder im Irak sind denn doch zu abschreckend: Dort verfolgt im Zweifel jede Gruppe ihr eigenes Partikularinteresse. Eine schlanke Regierungsführung, die den Geboten der nationalen Vernunft und der faktischen Notwendigkeit folgt, ist so kaum zu erreichen. Im Ergebnis gibt es deswegen oft einen Stillstand der politischen Entscheidungsfindung mit nachfolgender Stagnation der Wirtschaft.
Andreas Reinicke, der letzte Botschafter Deutschlands in Syrien meint, „dass wir und auch die Syrer wohl akzeptieren müssen, dass anders als bisher die sunnitische Mehrheit wohl auch ein muslimisch geprägtes Land entwickeln wird. Das wird ein Unterschied sein zu früher. Die Frage ist, wie radikal wird ein solches System werden?“
Ob es ein moderat muslimisches oder ein radikal muslimisches System sein werde „wissen wir nicht“, so Reinicke. „Und die Frage, wie die Minderheiten beteiligt werden, sollte man schon den Syrern selbst überlassen.“ Entscheidend sei, „dass sie in einer Art und Weise beteiligt werden, die sie selbst als angemessen sehen. Da kann man sich viele Modelle vorstellen und dem sollte man auch gar nicht vorgreifen. Aber sie selbst müssen das Gefühl haben, wir sind in diesem Staat willkommen sind, auch ihren Teil beitragen können und sich nicht als Bürger zweiter oder dritter Klasse empfinden,“ so Reinicke.
Trotz der fragilen Situation hat sich die internationale Staatengemeinschaft mittlerweile aufgemacht, dem krisengeschüttelten Syrien wieder auf die Beine zu helfen. Denn ein Machtvakuum würde im Zweifel zur einem vollständigen Chaos oder einer Destabilisierung durch Warlords oder politisierte islamistische Gruppen führen.
Mitte Februar haben in Paris mehr als 20 Geber-Staaten und internationale Organisationen darüber beraten, wie die Lage in Syrien stabilisiert und verbessert werden kann. Die Konferenz folgt auf zwei vorherige Treffen mit den neuen Vertretern Syriens. Das erste fand bereits wenige Tage nach dem Sturz des Regimes von Baschar al-Assad am 14. Dezember in der jordanischen Stadt Aqaba statt. Ein weiteres Treffen folgte Mitte Januar in Saudi-Arabien.
Es kamen Vertreter der Arabischen Liga, des Golf-Kooperationsrats, der EU, der Türkei, der USA und der Vereinten Nationen. Für die syrischen Übergangsbehörden nahm der provisorische Außenminister Assaad al-Chaibani teil. Hauptziel des Treffens war, gemeinsam mit den Syrern eine Strategie zur Koordinierung der internationalen Hilfe zu entwickeln und die Modalitäten für die Bereitstellung dieser Hilfe vor Ort festzulegen.
Syrien, Palästina und der Libanon stehen im Fokus einer neuen Koordinierungsgruppe, die der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank sowie eine Reihe von Geberländern vom Golf Mitte Februar am Rande der Al-Ula-Konferenz für Schwellenländer in Saudi-Arabien geschaffen wurde. Auch regionale Institutionen wie der Arabische Währungsfonds und die Islamische Entwicklungsbank sind Teil dieses informellen Zusammenschluss, der nach eigenem Bekunden nicht nur Syrien, sondern die Krisengebiete in der gesamten Region als Fördergebiete bearbeiten soll.
Die Bundesregierung hat in den Jahren des Bürgerkrieges ihre Beziehungen nie vollständig abgebrochen. So hat das Bundesministerium für Zusammenarbeit (BMZ) allein 2024 rund 132 Millionen EURO für entwicklungspolitische Vorhaben in Syrien zur Verfügung gestellt.
Nach dem Sturz des Assad-Regimes engagiert sich die KfW nach eigenem Bekunden „für die Stabilisierung und den Wiederaufbau Syriens“. Im Auftrag der Bundesregierung stellt sie Finanzierungen bereit „und trägt so zum gesellschaftlichen Neuanfang des Landes bei“. So sagte die KfW aus Mitteln der Bundesregierung 79 Millionen EURO für 2024 zu. Für Vorhaben der syrischen Zivilgesellschaft hat die Bundesregierung zudem kürzlich sieben Millionen EURO zusätzlich bewilligt. Weitere Vorhaben wurden im Kontext der Fluchtbewegungen von Libanon nach Syrien bereits in den vergangenen Monaten aufgestockt.
In drei Schlüsselsektoren sind Aktivitäten vorrangig und dringlich erforderlich: Beim Aufbau der Infrastruktur, bei der Energieversorgung und im Gesundheitswesen.
Infrastruktur / Logistik / Wohnungsbau
- Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur, um modernen Standards zu entsprechen
- Straßen und Brücken müssen wieder aufgebaut und modernisiert werden.
- Die meisten Fahrzeuge stammen aus den 1990er Jahren. Notwendig ist der Austausch der gesamten Flotten für den öffentlichen und privaten Verkehr.
- Flughäfen: Dringende Notwendigkeit bei der Behebung kritischer Engpässe bei Flugsicherung und Navigationssystemen, insbesondere am Flughafen Damaskus.
- Nach Schätzungen der UN müssen rund 400.000 Wohneinheiten im sozialen Wohnungsbau müssen pro Jahr errichtet werden, um die Nachfrage zu decken.
Energie
- Die aktuelle Produktion von Elektrizität liegt bei 800 MW, bei einem Bedarf von 9000 MW.
- Möglich wäre eine recht rasche Steigerung auf 4000 MW durch Nutzung bestehender, aber häufig beschädigter Anlagen. Dabei ist die volle Auslastung freilich abhängig von der Verfügbarkeit von Gas und Brennstoff sowie der Lieferung von Ersatzteilen.
- Geplant sind regionale Netzverbindungen: So sollen von 400 MW Strom aus der Türkei und 400 MW aus Jordanien importiert werden.
- Es gibt einen Plan für schwimmende Kraftwerke, durch die zusätzlich 800 MW Strom erzeugt werden kann.
Gesundheit
Über die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen sind aufgrund des Konflikts nicht oder nur teilweise funktionsfähig. Es herrscht ein akuter Mangel an lebenswichtigen Medikamenten, Ausrüstung und Impfstoffen. Mehr als die Hälfte des medizinischen Personals ist geflohen, weshalb die verbleibenden Arbeitskräfte überlastet sind.
Zunehmend verbreiten sich Infektionskrankheiten (z. B. Cholera, Masern), Unterernährung, insbesondere bei Kindern ist ein Massenphänomen. Der unmittelbare Bedarf ist enorm und vielfältig:
- Sanierung der Infrastruktur – Reparatur und Ausstattung beschädigter Einrichtungen.
- Versorgung – Sicherstellung des Zugangs zu lebenswichtigen Medikamenten und Impfstoffen.
- Unterstützung des Personals – Bindung und Schulung von Gesundheitspersonal.
- Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit – Bekämpfung von Krankheitsausbrüchen und Unterernährung.
- Verbesserter Zugang – Einsatz mobiler Kliniken, um unterversorgte Gebiete zu erreichen.
Strategische Planung und Partnerschaften sind unerlässlich, um Chancen bei den Bemühungen beim Wiederaufbau zu nutzen.
Viele der rund 6.000 in Deutschland lebenden syrischen Ärzte und Ärztinnen und darüber hinaus viele engagierte Einzelpersonen und Hilfsorganisationen haben sich mittlerweile bei Stellen der deutschen Bundesregierung gemeldet, weil sie helfen wollen, den Gesundheitsbereich wieder aufzubauen. Mitte Februar kamen viele von ihnen in Berlin zu einer Konferenz des BMZ zusammen, um Wege für die bestmögliche Unterstützung zu diskutieren. Dabei hat die Bundesregierung durchaus einen Zielkonflikt gesehen. Viele gut ausgebildete Syrer sind mittlerweile in das deutsche Gesundheitssystem integriert und hier kaum mehr wegzudenken.
Konzepte und Programme, um beide Bedarfe zu koordinieren, sind in Arbeit. Klar ist: Das BMZ wird über ein spezielles Programm Partnerschaften zwischen deutschen und syrischen Kliniken fördern. Bis zu 500 000 EURO erhalten Gesundheitseinrichtungen und Durchführungsorganisationen für Trainings, Reisen zu den Partnereinrichtungen, medizinische Geräte und Medikamente. Das ausgebildete Personal kann das Wissen an andere syrische Krankenhäuser weitergeben, so dass sich die Wirkung verstärkt.
Die Partnerschaften sollen in allen Teilen Syriens aktiv werden und allen Bevölkerungsgruppen, auch ethnischen und religiösen Minderheiten sowie Frauen und Kindern zugutekommen.
Der Finanzbedarf ist enorm, Die Weltbank beziffert die gesamtwirtschaftlichen Verluste werden in Syrien auf 600 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Zum Wiederaufbau werden – ebenfalls nach Schätzungen der UN, rund 300 Milliarden US-Dollar benötigt. Die Geberkonferenzen sind dabei, erforderliche Mittel zu allokieren – wobei die Golfstaaten und die EU hierbei sinnvollerweise kooperieren sollten.
Die neue Bundesregierung sollte die interessierte deutsche Wirtschaft möglichst bald zu einer Syrien Wirtschafts- und Handelskonferenz zusammenbringen, um Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Chancen zur Umsetzung zu koordinieren. Dabei sollten auch die Möglichkeiten zur politischen und finanztechnischen Flankierung von Aktivitäten deutscher Unternehmen in Syrien besprochen und festgelegt werden.
von: Jürgen Hogrefe