Libyen verfügt über ein gut entwickeltes Stromnetz, das viele Teile des Landes mit Elektrizität versorgt. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hat Zugang zum Stromnetz, aber einige abgelegene Gebiete sind hauptsächlich auf Dieselgeneratoren angewiesen. Das Netz versorgt etwa 1,2 Millionen Privatkunden, die sich hauptsächlich auf die Regionen Tripolis, Mitte und West konzentrieren. Das Netz versorgt auch den Industriesektor, Einrichtungen des Gesundheits- und Bildungssektors, Wasserpumpstationen/Aufbereitungsanlagen, sowie insbesondere die großen Pumpstationen entlang des künstlichen Flusses (Man Made River), der Wasser vom Süden in die Bevölkerungszentren im Norden transportiert. Nach Angaben des Africa Energy Portal verfügt Libyen über eine nominell installierte Kapazität von 10 GW, doch die tatsächlich installierte Kapazität liegt bei etwa 7,5 GW, während in der Praxis aufgrund von Ersatzteil- und Brennstoffmangel kaum 5,5 GW verfügbar sind. Diese Situation führt zu einem Stromversorgungsdefizit von etwa 25 %.
Die Elektrizität stammt hauptsächlich aus der thermischen Erzeugung, die verschiedene Technologien umfasst. Gas hat stufenweise Ölbrennstoffe ersetzt, was zu einer Senkung der Betriebskosten um über 50 Prozent geführt hat. Die vollständig in Staatsbesitz befindliche, General Electricity Company of Libya (GECOL) ist das einzige Elektrizitätsunternehmen, das für die Erzeugung, Übertragung, Verteilung und den Verkauf zuständig ist. Die kommerziellen Verluste von GECOL sind jedoch mit über 60 Prozent sehr hoch. Energieprodukte (Kraftstoffe und Strom) werden in Libyen stark subventioniert. Die finanzielle Nachhaltigkeit des Energiesektors ist daher sehr schwach. Beispielsweise kann GECOL derzeit nur etwa 9 Prozent seiner Stromerzeugungs- und -versorgungskosten in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar einnehmen, was unter anderem auf die niedrigen Tarife und die hohen Verluste zurückzuführen ist. Die libysche Regierung der Nationalen Einheit von Abdel Hamid Dbeibah hat große Mengen an neuen gasbefeuerten Stromerzeugungskapazitäten gebaut, aber ohne die notwendige Bereitstellung von Gas oder der Pipeline-Infrastruktur, um eine stabile Versorgung zu gewährleisten. Libyens Stromkrise wird weiterhin an teure Dieselimporte gebunden sein. Die Offshore-Erdgaserschließungen des italienischen Energiekonzerns Eni könnten dieses Problem vielleicht lösen, jedoch das Versäumnis, nennenswerte Kapazitäten für erneuerbare Energien aufzubauen, stellt ebenfalls eine große strategische Lücke dar.
Ferner verfügt das Land über ein bedeutendes Potenzial an erneuerbarer Energie, das noch weitgehend ungenutzt ist. Das Africa Energy Portal gibt an, dass die Schätzungen der durchschnittlichen täglichen Sonneneinstrahlung von 7,1 kWh/m²/Tag in den Küstenregionen bis 8,1 kWh/m“/Tag in der südlichen Region, bei einer durchschnittlichen Sonnenscheindauer von mehr als 3 500 Stunden/Jahr reichen. Das Potenzial für Windenergie ist ebenfalls gut, mit einer geschätzten durchschnittlichen Windgeschwindigkeit von 6 -7,5 m/s in 40 m Höhe entlang der libyschen Küste bei Dernah. Erneuerbare Energie aus Wind, Photovoltaik und Solarkraftwerken kann ein wirtschaftlich attraktiver Ersatz für konventionelle Energie sein und gleichzeitig einen Beitrag zum lokalen und globalen Umweltschutz leisten. Dennoch ist der Anteil der erneuerbaren Energien am libyschen Energiemix immer noch sehr bescheiden. Im Jahr 2013 hat die libysche Regierung einen Strategieplan für erneuerbare Energien für den Zeitraum 2013-2025 ins Leben gerufen, der bis 2025 einen Anteil von 10 % erreichen soll. Einige groß angelegte Wind- und Solarprojekte werden derzeit von der Regierung umgesetzt. Es laufen auch Initiativen zur Einführung dezentraler und EE-basierter Mini-Netze, insbesondere um die derzeitigen Netzprobleme zu überwinden
Angetrieben von der politischen Notwendigkeit, die seit mehr als zehn Jahren andauernde Stromkrise zu beheben, hat die General Electric Company of Libya (GECOL) mit Unterstützung von Siemens und General Electric im Jahr 2022 massive Wartungsarbeiten an acht ihrer Gaskraftwerke durchgeführt, um sie auf die steigende Nachfrage einzustellen. Nach Informationen des Consulting- und Informationsunternehmen African Energy hat die libysche Regierung im Februar 2022 die Genehmigung für den Bau von zwei ehrgeizigen Stromerzeugungsprojekten erteilt. Das in Katar ansässige Unternehmen Urbacon Trading and Construction (UCC) hat die Genehmigung zum Bau eines großen Gaskraftwerks in Zliten (in der Nähe von Misrata) erhalten. UCC hat sich mit Siemens Energy, dem in Tripolis ansässigen Unternehmen Acesco Consulting Engineering and Services und dem in den USA ansässigen Unternehmen Hill International zusammengetan, die über umfangreiche Erfahrungen mit großen Projekten in Libyen verfügen. Nach neuesten Daten von MEED-Projects sind derzeit in Libyen Gaskraftwerksprojekte im Wert von über 3 Mrd. US-Dollar im Bau und weitere Projekte im Wert von 4,2 Mrd. US-Dollar in der Planung.
Die zweite im Februar 2022 von der Regierung erteilte Genehmigung betraf den Bau eines Photovoltaik-Kraftwerks durch das irische Unternehmen AG Energy. Seit einem Jahrzehnt ist AG Energy an verschiedenen Projekten in Libyen und der Region beteiligt gewesen. Nach Informationen von MEED hat im Mai 2022 das französische Unternehmen Total Energies mit der GECOL einen Vorvertrag über die Entwicklung eines 500-MW-Solarkraftwerks unterzeichnet. Die geplante Anlage wird in Al-Sadada, etwa 280 Kilometer südöstlich von Libyens Hauptstadt Tripolis entstehen. Die Tochtergesellschaft der Alpha Dhabi Holding, W Solar Investment, hat eine Absichtserklärung (MoU) mit der GECOL unterzeichnet, um die erste Phase eines 500-MW Photovoltaik-Projekts in Libyen zu entwickeln. Das langfristige Ziel ist der Bau einer Solarkapazität von 2 000 MW, so W Solar. Bei den genannten Projekten handelt es sich um die ersten einer Reihe geplanter Solar- und Windkraftanlagen, mit denen die installierte Kapazität an erneuerbaren Energien erhöht werden soll. Nach Angaben der Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien verfügt Libyen gegenwärtig mit etwa 10 MW über die geringste installierte Kapazität an erneuerbaren Energien im Nahen und im Mittleren Osten.