Die Wahl des neuen irakischen Premierministers Mohammed Shia al-Sudani wird von Hoffnung begleitet. Als erfahrener Minister in unterschiedlichen Funktionen wird ihm die Kompetenz zugetraut, das ölreiche Land 20 Jahre nach der Invasion einer internationalen Armee unter Führung der USA zu mehr Stabilität zu führen. Die Bekämpfung der Armut und die Verbesserung der öffentlichen Dienstleistungen gehören zu den dringlichsten Aufgaben. Der hohe Ölpreis füllt die Staatskasse und kann die Wiederherstellung einer modernen Infrastruktur ermöglichen. Deutsche Firmen haben große Chancen.
Eine der ersten Amtshandlungen des neu gewählten Premiers Mohammed Shia al-Sudani hatte Symbolkraft: Er besuchte ein staatliches Krankenhaus in Bagdad. Die öffentliche Aktion sollte seinen Landsleuten signalisieren, dass er die Not im Lande verstanden hat. Was er dabei zu sehen bekam, verdeutlichte die Dringlichkeit seiner Aufgabe: Der Nachholbedarf ist groß, es fehlt hinten und vorne.
Rund ein Drittel der Iraker leben in Armut, und der Sektor der öffentlichen Dienstleistungen liegt darnieder. Hier muss vordringlich Besserung geschaffen werden.
Die Voraussetzungen dafür könnten gegeben sein. Für das kommende Jahr peilt die Regierung in Bagdad einen Haushalt von 110 Milliarden US-Dollar an. Der Ölpreis wird vor dem Hintergrund der geopolitischen Lage auch mittelfristig sehr hoch bleiben, schätzen Ökonomen. Das käme dem Irak sehr zugute. In den zurückliegenden zehn Jahren machten die Öleinnahmen mehr als 99 Prozent der Exporte, 85 Prozent des Staatshaushalts und 42 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus.
Zwanzig Jahre nach der Invasion und nach Jahren schwerster innerer Verwerfungen sowie dem Kampf gegen den selbsternannten „Islamischen Staat“ schöpfen die Iraker Hoffnung, dass mit der neuen, demokratisch gewählten Regierung auch die Verhältnisse besser werden. Dazu trägt nicht nur bei, dass der Premier als kompetent gilt und als ein Mann, der nach innen integrativ agieren kann. Ihm wird auch zugetraut, dass er die äußert schwierige außenpolitische Situation seines Landes ausbalanciert.
Im Norden stehen türkische Verbände im Land. Die Autonome Region Kurdistan und der Zentralstaat Irak müssen weiterhin an einer belastbaren Rollen- und Aufgabenteilung arbeiten. Die Verflechtungen mit dem Nachbarland Iran werden weiter bestehen bleiben – und einstweilen bestehen bleiben müssen. Zu eng sind selbst Energie und Infrastruktur miteinander verwoben, als dass eine Abtrennung möglich oder wünschenswert wäre. Und die USA bleiben auf absehbare Zeit – auch militärisch – ein Faktor für Sicherheit und wirtschaftliche Stabilisierung. Bei einer derart komplexen Situation sind viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl nötig.
In einem Interview mit internationalen Journalisten benannte al-Sudani kurz nach Amtsantritt „die Wiederherstellung des Vertrauens zwischen den Bürgern und dem Parlament“ als seine wichtigste Aufgabe. Mehr Gesundheit, Bildung und Dienstleistungen stünden da ganz oben an. Die Armut der Leute müsse durch „ökonomische Reformen“ beseitigt werden. Als Voraussetzung dafür benannte er die Bekämpfung der grassierenden Korruption im Land. „Sie ist die größte Gefahr für den Irak, sie zerstört die gerechte Verteilung der Öleinnahmen und des Wohlstandes“. Er bat Regierungen und internationale Organisationen darum, dabei behilflich zu sein, Milliarden an Öleinnahmen, die illegal ins Ausland geflossen sind, wieder dem irakischen Staatshaushalt zuzuführen. Al-Sudani kündigte an : „Jeder bestechliche Regierungsbeamte wird zukünftig entlassen.“
Irak überwindet ökonomische Rezession
Der Irak kommt allmählich aus einer tiefen Rezession heraus, die hauptsächlich durch die Pandemie und den Verfall der Ölpreise im Jahr 2020 verursacht wurde. Der IWF notierte, dass nach einem Rückgang um etwa elf Prozent im Jahr 2020 die Wirtschaft 2021 um 1,1 gewachsen ist. Auch wegen einer soliden Expansion der Nicht-Öl-Sektoren, insbesondere der Dienstleistungsbereiche. Die Wirtschaft soll in den Jahren bis 2024 um durchschnittlich 5,4 Prozent pro Jahr wachsen, da höhere Investitionen, die durch die Öleinkünfte finanziert werden, das BIP-Wachstum außerhalb des Ölsektors ankurbeln werden.
Die ökonomische Rezession von 2020 spiegelt sich auch in der Entwicklung des Staatsbudgets wider. Die Öleinnahmen gingen 2020 aufgrund des Preisverfalls und der Produktionskürzungen im Rahmen der OPEC-Vereinbarungen um fast 40 Prozent zurück, was zu einem Haushaltsdefizit von 19,8 Prozent des BIP führte. Als Reaktion darauf hatte die Regierung im Haushaltsentwurf 2021 ein Paket von Maßnahmen zur Haushaltskonsolidierung vorgesehen. Gleichzeitig wertete die Zentralbank den Wechselkurs um 22,7 Prozent ab. Auch Maßnahmen zur Mobilisierung inländischer Einnahmen, beispielsweise durch höhere Zölle, führten zu einem Budgetüberschuss von 5,3 Prozent des BIP – trotz der höheren Ausgaben für Gesundheit und soziale Sicherheit. Dieser Trend soll bei fortgesetzter finanzieller Zurückhaltung mittelfristig fortbestehen.
Der gestiegene Ölpreis und gestiegene Exporte verbesserten auch die irakische Außenwirtschaftslage. Die Leistungsbilanz, die nach Weltbank-Angaben 2020 mit einem Defizit von 5,2 Prozent des BIP abschloss, erzielte 2021 einen Überschuss von 8,3 Prozent. Auch 2022 wird mit einem Aktivsaldo von etwa 10 Prozent gerechnet. Die stärkere Leistungsbilanz ließ die Devisenreserven von 54 Milliarden US-Dollar im Dezember 2020 auf 61,9 Milliarden US-Dollar im Dezember 2021 anwachsen, was die Puffer gegen externe Schocks stärkte.
Trotzdem bleiben nach Auffassung von Weltbank und IWF die makroökonomischen Aussichten des Landes weiterhin mit erheblichen Risiken behaftet. Eine IWF-Mission führte mit Vertretern der irakischen Regierung im Mai 2022 in Amman umfangreiche Beratungen. Beide Seiten waren sich anschließend einig: Wegen der erhöhten globalen Risiken sind die Konsolidierung der wirtschaftlichen Stabilität und die Stärkung der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit des Iraks von herausragender Bedeutung. Deshalb ist Beschleunigung der Strukturreformen, wie sie im „Weißbuch“ der Regierung beschrieben sind, zwingend notwendig.
„Wir laden internationale Konzerne ein, in den Irak zu kommen und hier zu investieren“.
Die Regierung Al-Sudani will wegen der hohen Abhängigkeit von Rohstoffen zielgerichtet eine Diversifizierung der Wirtschaft anstreben. Einen Schwerpunkt bilden dabei die Privatisierung und die Produktivitätssteigerung staatlicher Unternehmen. Zudem müssen grundlegende Dienstleistungen reformiert werden, die auch weiterhin vom Staat erbracht werden, wie Bildung, Gesundheit und Sozialschutz. Der Bereich der privaten Unternehmen muss robust wachsen.
Im Weltbank-Bericht „Ease of Doing Business“ für das Jahr 2020 rangierte der Irak auf einem hinteren Platz (172 von 190). Als größte Hindernisse für die Geschäftstätigkeit im Irak wurden Bürokratie, ein schwacher Bankensektor, komplexe Zollverfahren und ein unzureichender Investorenschutz genannt. Premier Al-Sudani will nun mit seiner Regierung der Nationalen Einheit diese Probleme zügig angehen.
Von primärer Bedeutung: Investitionen in die Infrastruktur
Der Irak hat einen enormen Bedarf an Infrastrukturentwicklung und benötigt daher dringend umfangreiche Investitionen für die Bereiche Transport, Verkehr, Energie, Telekommunikation, Wasser- und Abwasserwirtschaft. Das Straßennetz muss dringend saniert werden. Der Irak verfügt über mehr als 44 000 Kilometer befestigte Fernstraßen sowie über ein ausgedehntes ländliches, unbefestigtes Straßennetz. Das Straßen- und Brückensystem ist die wichtigste Verkehrsverbindung zwischen dem Irak und seinen Nachbarländern. Viele der Straßen und Brücken wurden in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren gebaut und auf eine Lebensdauer von 20 Jahren ausgelegt. Ein Großteil dieser Infrastruktur muss umfassend saniert oder ersetzt werden.
Einige Großprojekte schreiten unterdessen voran, wie die Instandsetzung der Verbindung zwischen Ninive, Erbil und Dohuk und die Arbeiten an der Verbindung zwischen Mosul und Qayyarah. Die 1,5 Kilometer lange Al-Quwair-Brücke steht kurz vor der Fertigstellung. Im April 2022 waren mehr als 50 Prozent der Bauarbeiten an der Salamiyah-Brücke im Süden von Mosul abgeschlossen.
Die staatliche Eisenbahn (Iraqi Republic Railroad – IRR), eines der wichtigsten Verkehrsmittel für den Import und Export, verfügt über 2 405 Kilometer Gleise, 109 Bahnhöfe, 31 Lokomotiven und 1 685 Fahrzeugeinheiten. Das gegenwärtig größte Eisenbahnprojekt ist der Bau einer 910 Kilometer langen Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Bagdad und Basra für insgesamt rund 13,7 Milliarden US-Dollar. Darüber hinaus soll für 8,6 Milliarden US-Dollar eine rund 700 Kilometer lange Bahnverbindung von Bagdad über Kirkuk nach Mossul errichtet werden. Die jüngsten Investitionen (40 Mio. US-Dollar) in ein hochmodernes computergestütztes Zugsteuerungssystem sind Bestandteil eines umfassenden Modernisierungsprogramms für das Eisenbahnsystem.
Auch die Planungen für den Bau einer Hochbahn durch Bagdad gewinnen an Aktualität. Das Stadtbahnprojekt im Umfang von etwa 2,5 Milliarden US-Dollar ersetzt frühere Pläne zum Bau einer U-Bahn durch die Hauptstadt. Iran und Irak haben Ende Dezember 2021 ein Abkommen über die Fertigstellung der Shalamcheh-Basra-Eisenbahn vereinbart, die die beiden Länder verbindet. Eine Vorstudie ist in Arbeit.
Der Ausbau der Hafeninfrastruktur wird durch die General Company for Ports (GCPI) betrieben, die zum Verkehrsministerium gehört. Im Dezember 2020 schloss die irakische Regierung einen Vertrag im Wert von 2,6 Milliarden US-Dollar mit dem südkoreanischen Unternehmen Daewoo über die Fertigstellung der ersten Phase des Al-Faw-Hafens. Die AD Ports Group aus Abu Dhabi unterzeichnete eine Absichtserklärung mit der GCPI zur Durchführung von Machbarkeitsstudien über das Management und den Betrieb von Seehäfen und zur Unterstützung der Entwicklung von Straßen- und Schienennetzen, die den Hafen Al-Faw mit den Märkten in Jordanien und der Türkei verbinden sollen.
Von zentraler Bedeutung: Energie
Die häufigen Stromausfälle sind einer der Hauptgründe für die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der Zentralregierung in Bagdad. Der Irak muss dringend seine gesamte Stromversorgung modernisieren – von der Erzeugung bis zur Übertragung und Verteilung. Gegenwärtig werden etwa 15.000 MW erzeugt, obwohl die Spitzennachfrage rund 24.000 MW erreicht. Der Bedarf ist immens, doch die Entscheidungsfindung über Projekte mitunter extrem langsam.
Unterdessen sind die Bauarbeiten für ein gasbefeuertes Kraftwerk in Anbar mit einem Investitionsumfang von 1,5 Milliarden US-Dollar wieder aufgenommen worden. Die Bauarbeiten hatten 2013 begonnen, mussten aber unterbrochen werden, weil der „Islamische Staat“ die Kontrolle über das Gouvernement Al-Anbar übernommen hatte.
Der US-Konzern General Electrics (GE), der seit 40 Jahren im Irak tätig ist, hat allein 2021 im Rahmen des irakischen Power-Up-Programms die irakische Stromerzeugungskapazität um 700 MW erhöht. GE hat gerade mehrere neue Verträge im Gesamtwert von 1,4 Milliarden US-Dollar mit dem irakischen Elektrizitätsministerium unterzeichnet, um das irakische Netz um weitere 2 000 MW zu erweitern. Im Mai 2021 unterzeichnete Siemens Energy einen Vertrag mit dem irakischen Elektrizitätsministerium über den Wiederaufbau des 2014 zerstörten 400-KV-Umspannwerks West-Mosul. Im Irak sind derzeit Projekte für konventionelle und erneuerbare Energieerzeugung und Übertragungsnetze im Gesamtwert von über 10,8 Milliarden US-Dollar in der Planung.
Erneuerbare Energie wurde bisher vernachlässigt, was angesichts der intensiven Sonneneinstrahlung im Irak erstaunt. Die wachsende Nachfrage nach Strom könnte vergleichsweise kostengünstig befriedigt werden. Ende Juni 2021 unterzeichnete Masdar Abu Dhabi mit der irakischen Regierung eine Vereinbarung über die Entwicklung von Solarprojekten mit einer Kapazität von 2 000 MW.
Das Potenzial für deutsche Unternehmen
Nach Angaben der AHK Bagdad sind aktuell circa 600 bis 700 deutsche Unternehmen im Irak aktiv, darunter auch namhafte DAX-Konzerne. Etwa 30 Unternehmen verfügen über Niederlassungen vor Ort.
Es ergeben sich nach der Regierungsbildung in Bagdad umfangreiche Möglichkeiten für die deutsche Wirtschaft, am Wiederaufbau des Landes mitzuwirken, zur Diversifizierung der irakischen Wirtschaft beizutragen und dabei ihr Know-how in unterschiedlichen Branchen einzubringen.
Die wichtigsten Ausfuhrgüter deutscher Unternehmen in den Irak sind Maschinen, Erzeugnisse der Elektrotechnik, Mess- und Regeltechnik, Kfz und –Teile, pharmazeutische Produkte sowie Nahrungsmittel. Aus dem Irak bezieht Deutschland vor allem Erdöl (2021: Importanteil ca. 99 Prozent), Rohstoffe, Nahrungsgüter und Erzeugnisse der Mess- und Regeltechnik.
Das Potenzial der bilateralen Beziehungen ist längst noch nicht erschöpft. Geschäftsmöglichkeiten ergeben sich – wie oben beschrieben – aus dem enormen Bedarf des Irak an der Entwicklung von Infrastruktur, Energie, Bildung, Gesundheit und Agrarwirtschaft. Zudem hat die Regierung Pläne zur Entwicklung und zum Ausbau der grenzüberschreitenden Verbindungen mit Saudi-Arabien, Jordanien, der Türkei, Kuwait und dem Iran angekündigt. Die Regierung plant darüber hinaus den Ausbau der Flughafenkapazitäten mit mehreren neuen Einrichtungen. Zudem werden die Häfen derzeit modernisiert.
BIP-WACHSTUM 2018-2023 (in %)
2018 | 2019 | 2020 | 2021* | 2022* | 2023* | |
---|---|---|---|---|---|---|
BIP | 0,8 | 4,5 | -10,9 | 1,1 | 4,4 | 5,7 |
Ölsektor | -1,3 | 3,8 | -12.6 | -1,3 | 5,9 | 6,9 |
Nichtöl-Sektoren | 4,7 | 5,7 | -8,0 | 5,0 | 2,1 | 2,5 |
Quelle: IMF, Regional Economic Outlook, Middle East Statistics, Washington, October 2021 *Schätzungen/vorläufige Angaben
Von Dr. Bernd Jäckel
Der gelernte Volkswirt mit Spezialisierung auf Bank- und Finanzsysteme war als Exportkaufmann eines DDR-Außenhandelsbetriebes in Ägypten, Libanon, Jemen und Syrien aktiv. 1976 wechselte er in den diplomatischen Dienst der DDR, ab 1990 gehörte er dann dem Bundeswirtschaftsministerium an, wo er mehr als zehn Jahre als Referent für die arabischen Länder sowie Afghanistan, Iran und Israel zuständig war. Seit 2005 ist er selbständiger Berater für mittelständische Unternehmen und für die Ghorfa.