Vielleicht hat es diesen externen Schock gebraucht, den die Wahl von Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten bewirkt hat. Plötzlich wird allgemein gefordert, dass unsere Sicherheits-, Außen- und Wirtschaftspolitik wieder von den eigenen Interessen geleitet wird. Ich finde das gut.
Doch was sind unsere Interessen? Die Antwort darauf fällt uns auch deswegen so schwer, weil wir es uns bequem eingerichtet hatten in dem Komfort einer regelbasierten internationalen Ordnung, in der ein benevolenter Hegemon internationales Recht und Regeln ausgibt und internationale Organisationen mit üppigen Bürokratien für – mehr oder weniger – Ordnung gesorgt haben. Doch Weltbank, WTO, Weltwährungsfonds & Co, von denen wir uns die Sicherheit vor dem Absturz in globale Regellosigkeit erhofft haben, stehen zur Disposition. Eine Garantie, dass sie Stabilität auch nur mittelfristig sichern, mag im Augenblick niemand geben. Der amerikanische Präsident tritt auf wie der Terminator einer brüchigen Politik des Ausgleichs zum globalen Vorteil.
Wir beschäftigen uns aufgeschreckt vorrangig mit NATO, Russland, Ukraine, mit den Trümmern überkommener transatlantischen Beziehungen und mit einem zügigen Schulterschluss mit den EU-Partnern. Zu recht, „first things first“. Doch beim Auswählen unserer strategischen Optionen und Positionen sollten wir eine Region nicht vergessen, die wir in den vergangenen Jahren sträflich vernachlässigt haben: Den Nahen Osten, unsere unmittelbaren Nachbarn südlich des Mittelmeeres.
Die neue Bundesregierung ist gut beraten, so schnell wie möglich eine neue Nah-Ost-Strategie zu entwickeln, die die Interessen beider Wirtschaftsräume bedient, den der MENA-Region und den EU. Schnittmengen gibt es viele. Und es gibt gute Möglichkeiten, Deutschland und die EU auch im Wettstreit zwischen den USA und China um diese geopolitisch bedeutsame Region gut zu positionieren und dabei nach eigenem Nutzen zu streben. Hier gilt es, unsere Interessen klar zu definieren – und wahrzunehmen.
Verwundert wird so mancher registriert haben, dass die Gespräche über eine Nachkriegsregelung für die Ukraine im saudischen Riyadh stattgefunden haben. Das ist einerseits eine Schmach für die EU, die es nicht geschafft hat, eine gemeinsame und vor allem wirksame Sicherheitspolitik aufzubauen. Doch andererseits ist es ein Indikator für die gewachsene Bedeutung des arabischen Raums.
Der Nahe Osten erlebt zurzeit den größten geopolitischen Wandel seit der Suez-Krise von 1956. Die USA sind nicht mehr der Stabilitätsanker, dem sich der Nahe Osten bedenkenlos anvertraut. Das begann lange vor Trump 2. Mittlerweile ist China zum wichtigsten Handelspartner von Saudi-Arabien geworden – und hat unlängst die EU auf diesem Feld abgelöst. Die chinesische Wirtschaft investiert massiv in gemeinsame Unternehmungen in den aufstrebenden Ländern am Golf – vor allem in High-Tech. Und auch politisch spielt China mittlerweile mit. Es war die Regierung in Peking, die beim Einfädeln der historischen Annäherungs-Gespräche zwischen Riad und Teheran behilflich war.
Das massive Interesse Chinas spiegelt den dynamischen Prozess wieder, den die arabischen Volkswirtschaften zurzeit durchlaufen. Geleitet durch sinnvolle mittel- und langfristige Entwicklungspläne, so genannte „National Visions“, lösen sich die Länder am Golf von ihrer Öl- und Gasabhängigkeit und bauen mit beeindruckender Geschwindigkeit moderne Volkswirtschaften auf. Das erscheint in mancher Hinsicht zukunftsweisender und erfolgsversprechender als unser vergleichsweise matter Versuch, die Wirtschaft wieder flott zu machen.
Mega-Projekte der Stadtentwicklung haben vor allem am Golf einen Boom für technologisch fortschrittliche und nachhaltige Stadtentwicklung und Infrastrukturplanung ausgelöst. Das Gesundheitswesen erlebt einen ungeahnten Aufschwung. Fachleute beobachten eine Schubumkehr beim Medizintourismus: Ließen sich früher arabische Patienten massenweise in deutschen Krankenhäuser behandeln, so strömen zunehmend deutsche Ärzte und Med-Tech-Wissenschaftler an den Golf, weil sie dort in Kliniken und an Unis extrem gute Bedingungen als Mediziner vorfinden.
Die Vereinigten Arabischen Emirate, Katar und Bahrain sind mittlerweile Fin-Tech Drehscheiben für den asiatischen Markt geworden. Milliarden Petro-Dollars fließen in KI, Automatisierungen und Robotik. Die Mega-Häfen und Flughäfen wie etwa in Katar und Dubai sind zu bedeutenden „Hubs“ in der globalen Logistik für Menschen und Material geworden.
In dieser Situation tut sich eine strategische Chance für die deutsche und die europäische Wirtschaft auf. Auch wenn China erhebliche Anstrengungen unternimmt und die Araber vorteilhafte Kooperationen gern annehmen – die EU ist für die Golf-Araber keineswegs abgeschrieben. Im Gegenteil: Die Wertschätzung für unsere Dienstleistungen und Produkte ist nach wie vor sehr hoch. Doch überall hört man die Frage „Why don’t you show up?“. Man kann dort nicht erkennen, dass die EU und Deutschland die Chancen wirklich verstanden haben, die für die deutsche Wirtschaft dort vorhanden sind. An Ausschreibungen für zukunftsweisende Projekte nehmen deutsche Unternehmen oft gar nicht teil. Direkte deutsche Investitionen – extreme Mangelware. Umgekehrt jedoch haben etwa Katar und die VAE viele Milliarden in deutsche Unternehmen investiert.
Es gibt am Golf die Vorstellung, dass EU und GCC gemeinsame Großprojekte in Zentralasien betreiben könnten – etwa in den schnell wachsenden Wirtschaften Usbekistans und Kasachstans. Motto: In der Kombination von Knowhow, ausreichend Kapital und weitsichtigem Verständnis könnten in diesen Ländern gemeinsame Projekte verwirklicht werden – unabhängig von den USA, von China und von Russland. Etwa beim Thema erneuerbare Energie. So könnten gemeinsame geopolitische Interessen materialisiert werden.
Im vergangenen Oktober hat in Brüssel erstmals der „EU – GCC Summit“ stattgefunden, an dem 23 Staats- und Regierungschefs aus der EU dem Golf-Kooperationsrat (GCC) teilgenommen haben. An einer Zusammenarbeit dieser regionalen Mittelmächte war seit 1989 gearbeitet worden, weshalb man in Brüssel und am Golf von einem „historischen Fortschritt“ sprach. Alle Golf-Monarchen waren in Brüssel anwesend; allein die Bundesregierung war nicht hochrangig vertreten. Das kam nicht gut an.
Die Staatsführungen am Golf erwarten, dass die Vereinbarungen aus Brüssel zügig umgesetzt werden. Freihandelszonen, Steuerabkommen, Visa-Erleichterungen, gegenseitige Investitionsabkommen. Die Liste der Themen, die die Plattform zu einem Motor für die Vertiefung der wirtschaftlichen und geopolitischen Beziehungen machen können, ist lang. Doch sie treffen auf eine EU, die sich auch hier als bürokratisch, langsam und entscheidungsschwach zeigt.
Derweil entwickeln sich die Länder am Golf stürmisch weiter. Selbst bei den Themen, für deren Entwicklung sich Deutschland traditionell stark macht, legen die Golf-Länder vor: Die weltweit größten Solarkraftwerke stehen oder entstehen in Ländern am Golf. Massive Investitionen sind für Wasserstoffproduktion und Kohlenstoffabscheidung und -speicherung geplant.
Doch nicht nur die Golfregion verdient die vermehrte Hinwendung der deutschen Politik und Wirtschaft. Marokko etwa ist mit einer Modernisierungsstrategie erfolgreich dabei, das Tor Europas zum afrikanischen Markt zu werden. Ägypten mit seinen rund 100 Millionen Einwohnern ist nicht nur ein bedeutender Markt für deutsche Produkte. Beeindruckende Beispiele zeigen, dass es dort ein großes Potenzial sehr gut ausgebildeter Spezialisten gibt, die schnell in deutsche Unternehmen integriert werden können, die sich in Ägypten niederlassen.
Im Land am Nil sprechen etwa rund 500 000 Menschen die deutsche Sprache. Mit gezielten Angeboten für deutsche Unternehmen und einer entsprechenden Offensive für die Anwerbung von Fachkräften könnte hier ein Pool für die bei uns so dringend benötigten Fachkräfte entstehen. Es gibt bereits – hier wie auch in anderen Ländern – beeindruckende Initiativen, diesen Transfer von Bildung und Arbeitskräften zum gegenseitigen Vorteil zu nutzen. Hier kann ein Schwerpunkt der Bundesregierung für künftige Kooperationen entstehen.
Das gilt um so mehr für Syrien. Das Land steht nach 14 Jahren Krieg und Bürgerkrieg vor der gewaltigen Aufgabe des Wiederaufbaus. Hier bieten sich außerordentlich gute Chancen für die deutsche Wirtschaft, vor allem in den Sektoren Energie, Gesundheit und Wohnungsbau. Die EU koordiniert gegenwärtig gemeinsame Aktivitäten und Finanzierungen. Zum großen Vorteil können die hier in Deutschland lebenden Syrer werden, die mit ihrer Erfahrung und dem bei uns erworbenem Wissen zu wichtigen Brücken zwischen deutschen Unternehmen und den staatlichen oder privaten Kräften sein, die das neue Syrien aufbauen werden. Damit die Wirtschaft in Syrien in Schwung kommt, müssen die Sanktionen final aufgehoben werden – sonst wird sich dort kaum ein ausländisches Unternehmen ansiedeln.
Auf Augenhöhe
An Syrien wird auch deutlich, welch zentrale Bedeutung stabile wirtschaftliche – und politische – Verhältnisse in den arabischen Ländern haben. Wer Fluchtursachen bekämpfen will, muss ein Interesse an einer prosperierenden arabischen Wirtschaft haben. Dabei geht es nicht um „Entwicklungshilfe“ – die nach meiner Auffassung ohnehin in ihrem Gehalt überprüft werden muss. Es geht um die Definition von Interessen – auf beiden Seiten. Es geht um das Ausloten von Möglichkeiten zur Kooperation auf Augenhöhe und um eine gezielte Wirtschaftsförderpolitik zum gegenseitigen Vorteil.
Deutschland leistet sich den Luxus, mit mehreren Ministerien gleichzeitig Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik zu machen – oft parallel, mit unterschiedlicher Zielsetzung und ohne Koordination. Das ist nicht länger haltbar, besonders vor dem Hintergrund knapperer Haushaltsmittel. Das jetzige Ministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) sollte in seiner jetzigen Form aufgelöst werden.
Einige der Themen, die man der Entwicklung von deutscher „soft power“ im Ausland zurechnen kann, sollten ins Auswärtige Amt wechseln. Die meisten Themen sind jedoch beim Wirtschaftsministerium besser aufgehoben, um zu einer effektiveren Außenwirtschaftspolitik zu kommen. Dazu gehören gezielte Mittel, um Fluchtursachen in den arabischen Ländern zu beseitigen.
Wer in Deutschland eine Akzeptanz für den Einsatz deutschen Steuergeldes zur Entwicklung im Ausland schaffen will, muss ein Interesse daran haben, dass dabei auch Interessen der deutschen Wirtschaft berücksichtigt werden. Für die gängige Praxis, erhebliche Mittel der KfW oder eines Ministeriums für Großprojekte aufzuwenden, deren Umsetzung dann etwa chinesischen Staatsunternehmen zugeschlagen wird, wird man nicht länger mit Verständnis rechnen können.
Bessere Koordination
Insofern gehört auch eine Koordination der unterschiedlichen Instrumente der Entwicklungszusammenarbeit – etwa der giz – und der Außenwirtschaftspolitik zu den Kernaufgaben einer neuen strategischen Nahost-Politik der neuen Bundesregierung.
Ein Grund für die Zurückhaltung privater Investitionen im Nahen ist wird immer wieder die mangelnde politische Stabilität einiger Länder genannt. Zu Stabilität gehört – neben einer gesunden wirtschaftlichen Grundlage – eine belastbare staatliche Ordnung. Deutschland fällt als Ordnungsmacht aus. Selbst mittelfristig wird bestenfalls die EU in ihrer Gesamtheit genügend Kraft und Mittel aufbringen, um dort stützend zu wirken, wo mangelnde Stabilität zum Risiko wird. Hierauf jedoch sollte die neue Bundesregierung mit großer Anstrengung hinarbeiten.
Die Länder der EU müssen es endlich schaffen, in Bezug auf die wirtschaftlich, strategisch so bedeutende Nachbarregion mit einer Stimme zu sprechen. In EU-Ländern wie Frankreich, Italien, Spanien und Griechenland, die unmittelbare Nachbarn der MENA-Region sind, wird das besser verstanden als bei uns. Ihren beachtlichen Versuchen einer gemeinsamen Aufstellung hat sich die Bundesregierung bisher nicht angeschlossen – unter anderem mit Hinweis auf das besondere Verhältnis der Deutschen zu Israel. Dieses wird und muss natürlich weiter bestehen bleiben. Dennoch werden wir uns als Deutschland und als EU das Vertrauen zu den arabischen Nachbarn nicht erarbeiten, solange wir uns dem Vorwurf ausgesetzt sehen, mit zweierlei Maß zu messen, wenn es um die Anwendung internationaler humanitärer Standards geht.
Politik und Moral
Eine Doppelmoral ist keine Moral. Wenn wir erfolgreiche Nahost-Politik machen wollen, dürfen wir die nicht mit deutscher Innenpolitik verwechseln. Das betrifft auch alle möglichen Alleinstellungsmerkmale von Außenpolitik, mit denen Deutschland nicht nur den EU-Konsens verlassen, sondern zuletzt auch immer mehr entnervte Reaktionen bei den arabischen Nachbarn hervorgerufen hat. Der erhobene Zeigefinger ist keine hilfreiche Geste für eine erfolgreiche Politik des Miteinander. Er signalisiert, dass das Gegenüber nicht wirklich als gleichberechtigter Partner begriffen wird.
Die arabischen Nachbarn, auch und besonders die reichen Länder am Golf, haben ihre Arme weit ausgestreckt, um die Partnerschaft mit der EU zu vertiefen. 2025 werden – auch wegen der aktuellen geopolitischen Konstellation – die Beziehungen zwischen den Golf-Ländern und der EU einen Wendepunkt erreichen. Die neue Bundesregierung sollte die besonderen Beziehungen, die im vergangenen Oktober auf ein strategisches Niveau gehoben worden sind, zielgerichtet und mit Hochdruck weiter entwickeln.
Der nächste EU-GCC-Gipfel wird 2026 in Riad stattfinden. Bis dahin können die Grundlagen für eine umfassende strategische Partnerschaft gelegt sein.
Von:
Sigmar Gabriel, ehemaliger deutscher Vizekanzler, Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister