Digitalisierung wird im außenpolitischen Diskurs zumeist mit Sicherheitsfragen verbunden. Dabei wird oft übersehen, dass die Digitalisierung einen immensen Gestaltungsspielraum in der Außenpolitik schafft. Digitale Transformation als Motor und Beschleuniger von Entwicklungsprozessen auf politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ebene: Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) bedient sich dieser Strategie der Digitalisierung. Aber auch die Europäische Union (EU) muss sich der geopolitischen Thematik annehmen. Wir brauchen einen erweiterten europäischen Digitalraum auf Basis einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den östlichen und südlichen Nachbarregionen.
Digitale Erfolgsgeschichten in Nordafrika
Wir nehmen noch zu wenig Notiz von den digitalen Erfolgsgeschichten in den Ländern unseres Nachbarkontinents Afrika. Besonders spannend ist die Situation in Nordafrika, wo etwa in Tunesien nach der Revolution 2011 ein dynamisches IT-Ökosystem entstanden ist. Die Start-up-Szene besteht hier aus jungen Absolventinnen und Absolventen tunesischer Universitäten sowie aus Rückkehrenden aus der westlichen Welt. Das digitale Ökosystem umfasst heute etwa 2000 Unternehmen und trägt bereits über 11 Prozent zum BIP bei. Dabei handelt es sich neben einfachen Digitalanbietern im Backoffice-Bereich auch um anspruchsvolle Deep-Tech-Unternehmen. So wie InstaDeep, ein Unternehmen für KI-gestützte B2B-Produkte zur Entscheidungsfindung, das jüngst eine strategische Partnerschaft mit dem deutschen Pharmakonzern BioNTech zur Entwicklung neuer Immuntherapien abgeschlossen hat.
Generell zeichnen sich tunesische IT-Anbieter durch Flexibilität und Anpassungsfähigkeit aus, auch weil die Branche noch nicht voll auf dem IT-Weltmarkt integriert ist, was sich unter anderem in Problemen beim Zugang zu internationaler Entwicklersoftware ausdrückt. Gleichzeitig befördern Herausforderungen dieser Art einen besonderen Überlebensgeist, der für die Arbeitsweise im Sektor charakteristisch und erfolgsbringend ist. Der Fortschritt in der digitalen Transformation schafft eine Reihe neuer Arbeitsplätze, für Tunesien laut Außenhandelsbehörde 80. 000. Viele werden durch ausländische Unternehmen geschaffen, die die kompetitive Kostenstruktur der Branche nutzen und Fachkräfte in der gleichen Zeitzone und in zwei bis drei Flugstunden Entfernung quasi vor der Haustür finden.
Die tunesische Erfolgsgeschichte beim digitalen Wandel ist exemplarisch für die ganze Region. Auch Marokko und Ägypten zählen zu den dynamischen Ländern Nordafrikas mit einer wachsenden IT-Industrie. Bezeichnend für diesen positiven Trend ist die stetig wachsende Menge an Risikokapital, die in afrikanische Tech-Start-ups investiert wird; 2019 überstieg diese Summe erstmals die Marke von zwei Milliarden US-Dollar. Neue digitale Arbeitsplätze werden jedoch nicht nur durch ausländische Investoren geschaffen. Vielmehr kann man die Entstehung zahlreicher neuer Unternehmen für den einheimischen Markt beobachten, da oftmals westliche Softwarelösungen nicht auf die lokalen Märkte und Nutzerpräferenzen zugeschnitten sind.
Digitale Technologien spielen eine Schlüsselrolle bei der Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele. Das hohe Maß an Vernetzbarkeit und die steigende Geschwindigkeit des Datenaustauschs befördert neue und innovative Anwendungen und Lösungen. Dadurch ergeben sich substanzielle Möglichkeiten, Armut zu bekämpfen und soziale Ungleichheiten zu verringern, etwa durch die Schaffung nachhaltiger Arbeitsplätze, digital gestützte Klimaanpassungsmaßnahmen oder durch die Stärkung der Rolle von Frauen.
Außenpolitische Konsequenzen
Die deutsche Entwicklungspolitik hat die Chancen und Herausforderungen der digitalen Transformation bereits seit einigen Jahren erkannt und eine Reihe entsprechender Projekte aufgesetzt. Ein besonderes Projekt sind die Digitalzentren, die digitale Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung fördern sollen. Insgesamt sollen derer 16 auf dem Kontinent entstehen. Um lokale Innovationen zu fördern, arbeitet das „Start-up Ecosystem Programme“ des Digitalzentrums Tunesien an Themen wie Gründungsförderung, Zugang zu Finanzen und Märkten sowie Trainings- und Vernetzungsmöglichkeiten.
Die Entwicklungen in Afghanistan zeigen uns, dass wir Außenpolitik neu denken müssen. Demokratie mit der Waffe zu exportieren, war offensichtlich nicht erfolgreich. Dennoch werden demokratisch- liberale Werte wie Informationsfreiheit und die Achtung der Menschenrechte nach wie vor von vielen Menschen als erstrebenswert angesehen. Der Weg dahin wird aber schwieriger. Alternativmodelle wie die Entwicklung in China werden zur Konkurrenz. Die Schaffung von besseren Lebensverhältnissen durch attraktive IT-gestützte Arbeitsplätze kann hierbei einen wichtigen Beitrag leisten. Dabei hat auch die digitale Transformation einen manifesten geopolitischen Hintergrund. Im technologischen Konflikt zwischen China und den USA geht es ebenfalls um die Position Europas: Es liegt nahe, dass Europa mit seinen Nachbarregionen eine enge technologische und wirtschaftliche Kooperation sucht.
Die Digitalisierung ist allerdings nicht ohne Risiken: Sie kann zwar die Transparenz und Rechenschaftspflicht verbessern, Bleibeperspektiven schaffen und Minderheiten befähigen. Neue Technologien können autoritären Regimen aber auch neue repressive Mittel an die Hand geben. Die Digitalisierung ist auch kein Allheilmittel bei der Schaffung von neuen Jobs. Sie kann sowohl eine Vielzahl traditioneller Arbeitsplätze zerstören als auch andererseits neue schaffen. Dieses Kerndilemma der Transformation ist ein weltweites Phänomen, das es in der digitalen Kooperation mit diesen Ländern zu beachten gilt.
Erweiterter europäischer Digitalraum
Es braucht also einen verlässlichen wirtschaftlichen und politischen Rahmen, bei dem die Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund stehen. Hier sind vor allem die EU und ihre Mitgliedstaaten gefordert. Die Assoziierungsabkommen müssen neu gedacht werden. Dies bedeutet beispielsweise, dass der digitalen und wirtschaftlichen Vernetzung zwischen Europa und Nordafrika ausreichend Rechnung getragen werden muss. Die EU könnte einen erweiterten europäischen digitalen Raum schaffen, der auch die südlichen und östlichen Nachbarstaaten einbezieht. Gemeinsame Ausbildungsgänge, ein intensiverer Austausch von Fachkräften sowie enge Abstimmung der Lehrinhalte an Schulen und Universitäten müssen erwogen werden. Ziel muss es sein, Kooperationen und Partnerschaften bei der Digitalisierung zum gegenseitigen Nutzen zu gestalten. Warum nicht auch ein Erasmus-Programm für qualifizierte Start-ups, das erleichterte Visumsmöglichkeiten schafft? Zudem muss eine Lösung bei der Anwendung der Europäischen Datenschutzverordnung gefunden werden. Die EU sollte ebenfalls beim Ausbau der digitalen Netze und der klimafreundlichen Energieversorgung helfen, um den wachsenden Energiebedarf durch die Digitalisierung klimafreundlich zu gestalten.
Von Dr. Andreas Reinicke, Botschafter a.D.
Dr. Andreas Reinicke ist seit Januar 2021 Senior Berater für die Digitale Kooperation mit Nordafrika beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Andreas Reinicke ist ein Kenner der arabischen Welt. Von 2001 – 2004 war er Leiter des Vertretungsbüros der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah, seit 2008 Botschafter in Syrien. Nach einer Position bei der EU als Sonderbeauftragter für den Friedensprozess im Nahen Osten wurde er Anfang 2014 als Botschafter nach Tunesien delegiert. Diese Position hatte er bis 2020 inne.