Der irakischen Botschafter Lukman Faily über die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Irak und die Chancen für deutsche Unternehmen in einem Land, das nach einer langen Zeit des Krieges und der Unruhen auf dem Weg zur Stabilität ist. Die Reisewarnungen das Auswärtigen Amtes für den Irak hält Faily für völlig veraltet.
SOUQ: Herr Botschafter, der Irak hat seit zwei Jahren eine neue Regierung unter der Führung von Premierminister Mohammed Shia al-Sudani. Sie hat sich international viel Respekt verschafft. Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Ergebnis dieser Regierung bis jetzt?
Faily: Die Regierung wurde nach einem langen, schwierigen Diskurs zwischen den sehr unterschiedlichen politischen Parteien und Gruppen gebildet. Es ist eine Regierung der nationalen Einheit. Keine relevante Gruppe – Kurden, Sunniten oder Schiiten der verschiedenen Fraktionen und keine Region – ist von den Regierungsgeschäften ausgeschlossen.
Die Regierung hat ein klares Mandat für den Premierminister erhalten, um lokale und nationale Wahlen vorzubereiten. Ihr Mandat läuft eigentlich bis Oktober 2025, so dass sie noch ein gutes Jahr bis zu den Wahlen hat. Allerdings wird das Parlament selbst entscheiden, wann es sich auflöst, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen.
Der Schwerpunkt der Regierungsbildung liegt auf der wirtschaftlichen Entwicklung. Sie hat auch den klaren Auftrag, grundlegende Dienstleistungen für das Land und seine Bevölkerung zu erbringen. Die Regierung bezeichnet sich selbst als „Government of Services „, was bedeutet, dass sie sich tatsächlich als Dienstleistungsorgan versteht, das die ihm übertragenen Aufgaben umsetzen muss.
SOUQ: Wie können wir uns das Regierungshandeln in der Praxis vorstellen?
Faily: Rund 90 Prozent der Abgeordneten sind Vertreter der Parteien, Fraktionen und Gruppierungen im Parlament. Und sie vertreten ihre Themen und Positionen entsprechend im Kabinett. Je nach Anzahl der Sitze im Parlament haben die Parteien eine bestimmte Anzahl von Positionen in den einzelnen Ministerien. Das ist keine einfache Formel und natürlich gibt es Herausforderungen.
SOUQ: Eine Proporzregierung kann Stabilität bringen. Aber es hängt von der Einstellung der Beteiligten ab. Arbeiten die Gruppen oder Parteien in einem gemeinsamen Interesse zusammen? Oder versuchen sie eher, ihre eigenen Positionen zu stärken?
IRAK: In gewisser Weise sind wir noch neu in der demokratischen Formation, die wir erst seit 20 Jahren haben. Koalitionen zu bilden, die Regierungsmacht zu teilen, einen Konsens zu finden – das sind neue Elemente der Politik. Wir befinden uns in einer Phase, in der wir experimentieren. Deshalb wird auch das Wahlrecht bei jeder Wahl mehr oder weniger geändert, um den Veränderungen Rechnung zu tragen.
Kooperation ist das Thema, und der Premierminister konzentriert sich auf ein gemeinsames Programm, das mit den politischen Parteien abgestimmt ist. Die Vorsitzenden der politischen Parteien treffen sich mehr oder weniger einmal im Monat, um die Einhaltung des Mandats und des Programms zu bestätigen. Sie müssen sich auch immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen, die sich ergeben. Aber auch hier gilt: Unsere Demokratie ist noch grün, noch frisch, noch neu. Konsenspolitik ist kein leichter Weg, wie Sie wissen. Darin sind Sie als Deutsche ja Experten (lacht).
SOUQ: Der Nahe Osten hat nicht nur gute Erfahrungen mit nationalen Einheitsregierungen gemacht.
Faily: Das ist richtig. Unsere Formation ist ein bisschen strategischer. In dem Sinne, dass jede Partei im Voraus weiß, dass sie allein keine Mehrheit haben wird. Auch innerhalb der Gemeinschaften hat keine einzelne Gruppierung eine Mehrheit.
Es gibt viele Kontrollen und Gegenkontrollen, aber sie sind für die Umsetzung der Politik notwendig, einschließlich der Koordinierung mit anderen Gruppierungen. Es ist sicherlich nicht der effizienteste Weg. Aber es ist der Weg, den die Menschen gewählt haben.
SOUQ: Und ist dieser Weg stabil?
Faily: Die Iraker haben sich entschieden, den schwierigen und manchmal schmerzhaften Prozess der Ablösung autoritärer Strukturen durch die Demokratie zu durchlaufen. Wir haben das Gefühl, dass wir nach allen Maßstäben demokratisch sind. Andererseits liegt eines der wichtigsten Ziele noch vor uns: die Übergabe der Macht an zivile Strukturen. Wir müssen uns immer vor Augen halten, dass wir eine Geschichte von Diktaturen haben. Wir sehen hier große Fortschritte. Es gibt zum Beispiel keine politischen Morde und keine politischen Gefangenen mehr, wie wir sie unter den früheren Regimes erlebt haben.
SOUQ: Und das zweite Ziel ist die Entwicklung der Wirtschaft? Was sind hier die Prioritäten der Regierung?
Faily: Ein Ziel ist, dass wir von der zentralen Steuerung, der zentralen Kontrolle und der Massenrekrutierung von Arbeitskräften durch die Regierung wegkommen müssen. Wir müssen dafür sorgen, dass mehr private Unternehmen florieren und neue Industrien entstehen. Das ist eine große Herausforderung.
Derzeit ist der Staat der größte Arbeitgeber. Das ist ineffizient, das ist kontraproduktiv. Die Menschen wollen Sicherheit, das ist verständlich. Aber es muss auch andere Möglichkeiten für wirtschaftliche Sicherheit im Arbeitsleben geben. Wir brauchen Vielfalt in der Wirtschaft. Erstens.
Und zweitens kommt der Großteil der Staatseinnahmen – nämlich 90 Prozent – aus dem Ölsektor. Aber weniger als ein Prozent der Beschäftigten sind in diesem Sektor tätig. Wir müssen also diversifizieren und andere Industrien entwickeln, seien sie staatlich oder nicht-staatlich. Und auf dem Arbeitsmarkt müssen wir uns von der Praxis lösen, dass wir überwiegend Staatsbedienstete beschäftigen.
Wir müssen auch strukturelle Fragen wie ein funktionierendes Steuer- und Zollsystem angehen. Industrien, die wir schaffen wollen, müssen effizienter sein. Wir müssen die Tourismusindustrie weiterentwickeln, sei es der religiöse Tourismus, sei es der archäologische Tourismus – ein Land wie der Irak hat hier viel zu bieten. Und dann gibt es noch andere wichtige Bereiche, wie Transport und Logistik. Der Irak soll eine Drehscheibe zwischen Europa und der Golfregion werden. Das ist eine extrem wichtige Vision. Wir brauchen unsere jungen, kreativen Menschen für diese Aufgaben. Wir können sie nicht alle von der Regierung rekrutieren lassen.
SOUQ: Was braucht der Irak im Moment am dringendsten?
IRAQ: Auf jeden Fall Vielfalt in der Wirtschaft – wie beschrieben. Insgesamt sind wir noch zu ineffizient. Aber wir brauchen auch bessere Technologien, wir müssen unsere Infrastruktur verbessern. Wir brauchen eine Menge Unterstützung, um die gesamte Infrastruktur zu verbessern.
SOUQ: Ist Korruption immer noch ein Thema?
Faily: Ja, auch das ist Teil des Regierungsprogramms. Die Herausforderungen sind klar: mehr Transparenz, bessere Regierungsführung. Aber das Problem hat eine grundlegendere Dimension: Es geht um die Beziehung zwischen dem Bürger und dem Staat. Es geht um das, was ich den „Gesellschaftsvertrag“ nenne.
Historisch gesehen hat die Diktatur keine gesunde Beziehung zwischen Bürger und Staat zugelassen. Der Staat hat immer gesagt: „Ihr seid nicht an der Entwicklung beteiligt, ihr seid nicht an der Entscheidungsfindung beteiligt, ihr seid an nichts beteiligt“. Alles kam von oben herab, letztlich vom Diktator. Es gab nicht einmal Entscheidungsfreiheit auf lokaler Ebene. Auf diese Weise wurde der „Gesellschaftsvertrag“ zwischen den Bürgern und dem Staat gebrochen.
Das müssen wir jetzt wieder in Ordnung bringen. Jetzt haben wir Kommunalwahlen. Wir haben nationale Wahlen. Wir schaffen neue, unabhängige und integre Institutionen, auch wenn sie nicht Teil der Exekutive sind. All das ist neu.
Wir brauchen eine Atmosphäre des Vertrauens, damit die Grundvoraussetzungen für einen funktionierenden „Gesellschaftsvertrag“ tatsächlich geschaffen werden können.
SOUQ: Also kein „Regime Change“, sondern ein „Mind Change“ für das ganze Land.
Faily: Wenn Sie mich fragen, was die größte Herausforderung ist, würde ich sagen, es ist der Prozess der Entscheidungsfindung, die Entscheidungsfindung von unten nach oben.
Jeder einzelne Bürger muss das Gefühl haben, dass er entscheiden kann, dass er sich beteiligen kann. Die Beamten brauchen eine bessere Art der Entscheidungsfindung, eine bessere Verwaltung, einen besseren Prozess zur Verfeinerung ihrer Entscheidungen. Und sie müssen auch lernen, Rechenschaft abzulegen.
Das eigentliche Problem ist das mangelnde Vertrauen der Menschen in die Politik und die Apparate – was angesichts der Geschichte von Diktaturen und Kriegen verständlich ist. Für mich ist das eine Generationenfrage. Bildung, die Kultur des Umgangs miteinander, die Kultur in der Politik und in der politischen Klasse – das muss sich ändern. Das ist keine leichte Aufgabe. Aber wir müssen sie lösen. Wir haben die Entschlossenheit dazu, aber wir müssen den Weg nach vorne finden.
SOUQ: Die Entwicklung des Privatsektors ist Teil eines größeren Plans, wie Sie sagten. Welche Bereiche des Privatsektors sind besonders wichtig?
IRAK: Das verarbeitende Gewerbe, die Landwirtschaft und das Transportwesen. Übrigens könnte Deutschland hier eine wichtige Rolle spielen.
Was das verarbeitende Gewerbe betrifft, so brauchen wir bessere inländische Fabriken, um den Bedarf zu decken. Ein großer Teil unserer Waren und Produkte wird derzeit noch importiert. Das gilt für alle Lebensbereiche, ob es sich um Lebensmittel, Kleidung oder andere Konsumgüter handelt.
In der Landwirtschaft geht es zum Beispiel um eine bessere Wasserbewirtschaftung. Der Irak ist historisch gesehen die Wiege der Zivilisation, die auf reichlich Wasser und fruchtbarem Land basierte. Wir brauchen neue Technologien, eine bessere Bewirtschaftung von Wasser und Wasserressourcen, damit wir mehr Ernährungssicherheit haben.
Und, wie bereits erwähnt: Verkehr. Hier geht es um Infrastruktur, Züge, Flugzeuge, Flughäfen, Straßen. Das ganze Land muss modernisiert werden, damit es zu einer wichtigen Drehscheibe für den Warenaustausch zwischen Europa und der Golfregion wird.
SOUQ: Können Sie uns sagen, was bereits auf den Weg gebracht worden ist?
IRAK: Vieles. Ein Beispiel: Die Regierung hat jetzt ein Budget in der Größenordnung von einer Milliarde Dollar pro Jahr bewilligt, um staatliche Bürgschaften für private Unternehmen zu übernehmen. Es sollen Produktionsanlagen aus Deutschland und Italien importiert werden. Von unserer Seite sind das Finanzministerium und die Handelsbank des Irak beteiligt. Deutsche Unternehmen erhalten Kreditbürgschaften von Euler Hermes. Wir haben eine Liste von Anbietern, die ermittelt und bewertet werden. Soweit ich weiß, sind bisher mindestens drei Projekte auf diese Weise auf den Weg gebracht worden.
SOUQ: Können Sie etwas zu den Volumina sagen, die finanziert werden?
IRAK: Der Gesamtbetrag beläuft sich derzeit auf etwa 200 Millionen US-Dollar für alle drei Projekte zusammen. Die Idee ist also nicht, dass wir auf milliardenschwere Projekte abzielen, sondern dass wir mit kleineren Unternehmungen beginnen. 50 Millionen Euro, 60 oder 100 Millionen. Konsumgüter, Kommunikation, Pharmazeutika, Landwirtschaft. Grüne Technologien im Allgemeinen: Deutschland sollte eine der Hauptquellen für Technologietransfer und Partnerschaften sein. Deutschland ist hier der wichtigste europäische Partner für den Irak. Wir brauchen auch die Deutschen, um voranzukommen. Aber es ist wie beim Tango: Zum Tango gehören immer zwei – sonst funktioniert es nicht.
SOUQ: Wie kommt es, dass die Deutschen Ihre bevorzugten Partner in Europa sind?
Faily: Wir haben eine lange und gute Tradition mit Ost- und Westdeutschland. Wir vertrauen deutschen Produkten. Deutschland bietet uns langfristige Stabilität und Qualität.
Die erste Auslandsreise unseres Premierministers ging nach Berlin. Er kommt regelmäßig zur Münchner Sicherheitskonferenz und trifft den Bundeskanzler in New York und überall dort, wo es multilaterale Treffen gibt. Es gibt auch regelmäßige hochrangige Dialoge und Delegationsreisen zwischen beiden Ländern. Die Chemie zwischen unseren beiden Ländern ist gut.
Auch im zwischenstaatlichen Dialog, der Vertrauen voraussetzt, sind grundsätzliche Probleme gelöst worden. So sind zum Beispiel die Fragen der Migration geklärt. Jetzt müssen wir uns an die praktische Arbeit machen. Ich spreche gerne von einem „Upgrade im Business-to-Business-Bereich“, und zwar nicht nur bei Großaufträgen. Wir können auf lange Sicht nicht nur ein Importeur von Produkten sein. Wir brauchen selbst ein höheres technologisches Niveau und einen langfristigen Plan für die Zusammenarbeit. Das hängt auch sehr stark von den Deutschen ab.
SOUQ: Treffen Sie auf der deutschen Seite auf den gleichen Optimismus?
Faily: Ja, die Dinge entwickeln sich weiter. Vor allem bei den großen Transaktionen, die unser Ministerpräsident selbst initiiert und abwickelt. Aber bei den kleinen und mittleren Unternehmen hat sich meiner Meinung nach wenig getan. Das liegt auch an der Vorgehensweise der Behörden in Berlin.
SOUQ: Sie meinen die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes, die ein sehr dramatisches Bild vom Irak zeichnet und nicht dazu ermutigt, im Irak Geschäfte zu machen?
Faily: Wir müssen dafür sorgen, dass diese Reisewarnungen revidiert werden. Ich habe dem Auswärtigen Amt offen gesagt, dass die Beschreibung des Irak auf ihrer Website völlig veraltet ist. Die Sicherheitslage hat sich deutlich verbessert, es herrscht Freizügigkeit. Aber ich weiß, dass ich es in Deutschland mit einem konservativen System zu tun habe. In Deutschland will man 110 Prozent Sicherheit, was unrealistisch ist. Ich mache mir Sorgen, dass sich Geschäftsleute aus vielversprechenden Unternehmungen zurückziehen könnten. Vielleicht sind ihre Versicherungsprämien zu hoch, was für sie problematisch sein könnte.
SOUQ: Wie reagiert das Auswärtige Amt auf Ihre Vorwürfe?
Faily: Sehr zurückhaltend. Sehr konservativ.
SOUQ: Glauben Sie, dass diese Reisewarnung ein Hindernis für die Entwicklung der irakischen Wirtschaft ist?
Faily: Ich denke, es ist mehr als das – es ist die falsche Botschaft. Die falsche Botschaft an deutsche Unternehmen. Aber wir haben beobachtet, dass viele Unternehmen sie einfach ignorieren.
SOUQ: Sie haben den Tourismus als einen Faktor in den deutsch-irakischen Beziehungen erwähnt – den archäologischen und religiösen Tourismus.
Faily: Ja, das stehen wir am Anfang. Wir haben gelegentlich Gruppen, die auf eigene Faust als Individualtouristen durch das Land reisen und unsere vielen historischen und archäologischen Stätten besuchen. Damit es richtig losgehen kann, brauchen wir eine direkte Flugverbindung von Deutschland in den Irak, und unsere staatliche Fluggesellschaft muss endlich wieder international anerkannt werden, vor allem in Europa.
SOUQ: Aber es wird keinen religiösen Tourismus aus Deutschland geben – oder doch?
Faily: Warum nicht? Wir haben eine sehr große irakische Diaspora in Deutschland, etwa 400.000 Menschen – aus allen Teilen des Irak und über ganz Deutschland verstreut. Sobald es gute Flugverbindungen gibt, kann die Diaspora eine der wichtigsten Brücken für den Tourismus und auch für Investitionen und Technologietransfer sein. Die Diaspora könnte auch eine wichtige kulturelle Verbindung zwischen unseren Ländern aufbauen. Und – die Diaspora kümmert sich nicht um Reisewarnungen.
SOUQ: Herr Botschafter, vielen Dank für das offene Gespräch.